Die Menschheit leidet wahrscheinlich schon exakt genau so lange unter ihren familiären Konflikten, wie die Menschheit überhaupt leiden kann. Vielleicht hat die Menschheit auch erst gelernt zu leiden, seit es die familiären Zusammenhänge gibt, aber so oder so: Sippenstreitigkeiten, die über den harmlosen „schiefen Haussegen“ hinausgehen, gehören durchaus zum realen Alltag und spätestens seit Sigmund Freud sogar zur laienpsychologischen Allgemeinbildung. Ödipus hat hier die weitaus beste Lobby, und natürlich fragt mal wieder kein Schwein nach seinem weiblichen Pendant – obwohl Elektra eine mindestens genau so tragische Geschichte erzählt.
Ist das schon eine Form der grundsätzlichen Diskriminierung?
Oder lässt sich dieser Umstand eventuell damit erklären, dass Elektra flüstert, weil emotional konditionierte Töchter sich zur bedingungslosen Liebe der Mutter gegenüber verpflichtet fühlen und die Scham über die eigene Undankbarkeit einfach zu groß ist, um reinen Gewissens eigene Stellung zu beziehen?Zurück zur Geschichte. Die mythologische Rahmenhandlung lässt sich schnell erzählen:
Klytämnestra bringt Elektra um den Vater, Elektra sinnt auf Rache und stiftet ihren Bruder Orest zur Vergeltung an. Der klassische Muttermord.
Sprich: Astreiner, sauberer Totschlag ohne Ansage
Im inzestuösen Drumherum der griechischen Sagenwelt vernetzen sich natürlich auch noch allerhand andere dichtungsfrohe Zusammenhänge, aber wenn man es auf den Punkt bringen will: Elektra tötet aus Rache am Tod des Vaters die eigene Mutter, weil sie sich in ihrer psychischen Konstitution außer Stande sieht, über ihren eigenen Urkonflikt hinauszuwachsen und den schmerzvollen Abnabelungsprozess zumindest auf weniger drastische Weise zu vollziehen. Ich fürchte, Millionen Frauen in einer millionenfach ähnlichen Situation können das im Grundgedanken sogar besser nachvollziehen, als ihnen lieb ist.
Klytämnestra schlachtete den Gatten Agamemnon ihrer Zeit konsequent im Badezimmer ab und veranstaltete dabei ein inszenierungswürdiges Gemetzel.
Sprich: Astreiner, sauberer Totschlag ohne Ansage.
Die moderne Klytämnestra hingegen mordet subtiler. Weniger blutig, aber nicht unbedingt weniger grausam. Sie beantragt beispielsweise das alleinige Sorgerecht.
Natürlich ziehen Scheidungskinder auf jeden Fall irgendeine Arschkarte. Die „gesunde Trennung“ ist ein Randgruppenwitz und in logischer Konsequenz sorgt eine derart gravierende Veränderung im Umfeld eines Kindes zu grundsätzlichen Verwirrungen, egal in welcher Konstellation sich die Familie weiterführt, aber zum Glück sind kleine Menschen eben nicht aus Zucker und, nein, nicht jedes „Scheidungsopfer“ muss zwangsweise mit Beziehungsängsten oder Panikattacken beim Therapeuten stranden.
Du musst funktionieren, wenn du in dieser Welt bestehen willst
Gefährlich wird es für Elektra, wenn die allein erziehende Mutter ihren wiederum eigenen Kampf auf dem Rücken der Tochter weiterführt und sie so in eine Art Komplizenschaft oder Zwangsidentifikation hineinmanipuliert. Das psychodynamische Modell: Klytämnestra verbleibt tief verletzt und verunsichert, und weil Elektra nicht über kurz oder lang genau das Gleiche passieren soll, wird sie von Kind an mit den Ängsten der Mutter geimpft und so „in bester Absicht“ auf die vermeintlichen Härten im Leben „vorbereitet“:
1.) „In dieser Welt kannst du niemandem vertrauen und dein Vater ist ein wertloser Egozentriker.“
2.) „Du musst funktionieren, wenn du in dieser Welt bestehen willst. Leistung ist alles.“
3.) „Lass dir von Fremden keine Bonbons schenken und hör sofort auf, an der Batterie aus der Fernbedienung zu lutschen!“
Natürlich geht diese Rechnung nicht einmal aus der selbstlosesten Motivation heraus auf.
Die Formel stimmt nicht: Man erzieht keine gesunden Kinder, wenn man sie schon in ihren Grundsätzen auf eine krankende Realität konditioniert. Ganz im Gegenteil. Nicht wenige Elektras reagieren, indem sie sich selber für ihre vermeintliche Unzulänglichkeit bestrafen: Leistungsverweigerung, Drogenmissbrauch oder auf der anderen Seite Magersucht, Zwangsneurosen, Isolation, etc. Frauen kämpfen nicht nur auf subtile Weise, sie setzen sich auch subtil und oft selbstzerstörerisch zur Wehr.
Der Klassiker „emotionale Erpressung“
Analog entsteht zwischen Kindern und allein erziehenden Elternteilen eine zuweilen verhängnisvoll intensive Bindung. Der erziehende Part nimmt verstärkten Einfluss auf die grundlegende Wertsetzung im Individuum, sprich: Eine Elektra die sich selber behaupten will und im Zuge ihrer Entwicklung irgendwann eine Klytämnestra anzuzweifeln wagt, fällt zunächst einmal vor der höchsten Instanz – und Klytämnestras strafen hart:
Schläge, Drohungen, Vorwürfe, Liebesentzug und vor allem der Klassiker „emotionale Erpressung“, der in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter besonders gut funktioniert, weil er an die engste aller Bindungen überhaupt appelliert:
„Du zerstörst die Frau, die dich unter Schmerzen zur Welt gebracht hat. Du bist schuld, dass ich unter Alkoholproblemen / Magenschmerzen / Migräne / Schlafstörungen / Depressionen, etc. zu leiden habe.“
Aua.
Frauen mit „Wut im Bauch“ werden belächelt
Die moderne Elektra verkauft Damenoberbekleidung, leitet archäologische Ausgrabungen oder sitzt in der Chefetage. Frauen, die mit dickem Kloß im Hals von ihren Mutterkonflikten erzählen oder hilflos in Tränen ausbrechen, weil sie sich noch bis ins längst erwachsene Alter nicht zwischen Aggression und Selbstvorwürfen entscheiden können, ein Leben lang am eigenen Minderwertigkeitskomplex zu nagen haben und ihre Geschichte einfach nicht sauber bewältigen können. Das Rollenmuster schreibt vor:
Frauen dürfen keine Aggressionen hegen und keine Konfrontation suchen. Frauen mit „Wut im Bauch“ werden entweder belächelt, oder man schiebt sie in die undankbare Schublade der überempfindlichen Zicken.
Letzten Endes stellt sich hier die grundsätzliche Frage: Hat der Mensch einen eigenen Willen, oder muss er auf ewig sein eigenes Opfer bleiben? Gibt es für Elektra eine andere Wahl, als ironischer Weise den verbitterten Kreislauf fortzusetzen und irgendwann selbst zur duplizierten Klytämnestra zu werden?
Vermutlich ja, denn zum Glück gibt es auch jene Töchter, denen die Sache mit dem inneren Standortwechsel ein wenig besser gelingt. Selbstbestimmte Frauen, die ihre Wut irgendwann zulassen, der Realität ins Auge blicken, anschließend einen Schritt zur Seite treten und sich selber in einen größeren Zusammenhang stellen:
„Ja, meine Mutter wollte immer mein Bestes, ist dabei zu ihrem wie zu meinem Unglück an ihrer eigenen Schwäche gescheitert und ich darf daraus weder ihr noch mir selber einen Vorwurf stricken, denn man kann seinen Nächsten maximal im gleichen Maße lieben wie sich selbst. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Weil ich die Ängste einer Klytämnestra kenne, bedeutet das noch lange nicht, dass ich mich in meiner Realität von ihnen in Grund und Boden dominieren lasse.“
Eine Elektra, die nicht zur Klytämnestra werden will, muss die Schuldspirale durchbrechen und die erforderliche Portion innere Stärke entwickeln, um sich bewusst zu werden und die Verantwortung für ihre eigenen Feldzüge zu übernehmen. Genau das kann sie nämlich in ihrem eigenem Leben von Klytämnestra unterscheiden: Die Erkenntnis, dass authentische Emanzipation nichts mit Hassgefühlen oder Feind/bildern zu tun haben darf!
Autorin: Mirjam-Magdalena Bohusch
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